Neulich auf der Yoga Conference habe ich eine kleine, aber feine Randgegebenheit beobachtet, die mich nachhaltig beschäftigt hat. Was war passiert? Nun, es war Mittagszeit und alle hungrigen Yogis rannten mit ihren Tellern und Matten, Täschchen und Malas herum und suchten eine Ecke sowie ein bekanntes Gesicht für die Stärkung am Mittag. Es war wuselig, es war lebendig. Am Nachbartisch saß eine der Lehrerinnen der Conference, schick umgezogen und bereit für die nächste yogische Tat, nehme ich an. Neben ihr eine quirlige Gruppe von Menschen und es passierte, was hier bei uns am Küchentisch ziemlich oft passiert (und das liegt nicht am jüngsten Familienmitglied): Es wurde gestikuliert und gekichert und dann – plöng! platsch! – ergoss sich der Inhalt eines Getränks leider unter anderem auf der Yogalehrerin. Hatten wir alle schon mal, oder? Unangenehm ist das und zwar für beide Beteiligten. Die Eine fühlt sich schuldig (so auch hier) und entschuldigte sich vielmals. Die Andere versuchte nicht auszuflippen – so gut es eben ging.
Die beste Version von uns Selbst
Die Stimmung bei dem Nachbargrüppchen kippte, als selbst auf die wortreichen Entschuldigungen die Besitzerin der nun nassen Oberschenkel nur mit kühlen Worten reagierte. Sie habe noch Termine. Die Schuldige begann unterwürfig am feuchten Fleck auf dem fremden Schenkel zu reiben, einige lange Sekunden ging das so. Es gab kein „Ist nicht so schlimm“ oder „Kann ja mal passieren“, kein „Na, kann man nichts machen“ oder „Nun lassen Sie mal gut sein“ – es gab nichts. Die Stimmung war eisig und ich war froh, dass mein Glas sicher stand. Und habe mich gefragt: Hier haben wir eine erfahrene Yogalehrerin. Ich unterstelle hier schon mal optimistisch tägliche, ausgleichend wirkende, Meditationspraxis und Yoga Asanas, die die Chakren nur so durchsortieren. Und trotzdem ist sie offensichtlich in diesem Moment nicht die beste Version ihrer Selbst. Kein weicher Kokon aus Gelassenheit hat sie umgeben, sie war – in diesem kurzen Moment – nicht freundlich oder mitfühlend. Sie war einfach (äh, wie sag ich es charmant?) zickig.
Wir sind alle nur Menschen
Ich war vielleicht erschüttert! Also wirklich! Darf das sein? Immerhin erhoffe ich mir von meinem Yogaweg einen ruhigeren Geist. Mehr Kontrolle über meine Gedanken, mehr Fokus, mehr Eins sein mit mir. Eins natürlich nur mit meiner besten Version, mit meinem „höheren Selbst“, wie man so schön sagt. Nicht mit der Zicke in mir. Engelsgleich sehe ich mich in Zukunftsvisionen den Widrigkeiten des Lebens entgegen lächeln. Ich ruhe in mir und wirke Leuchtturm-ähnlich nahezu narkotisierend auf mein Umfeld. Das wird ein Spaß!
Aber, wenn nun selbst so erfahrene Lehrer schon bei nassen Oberschenkeln eisig werden? Wie lang muss dann erst mein Weg noch sein? Oh je! Zum Glück habe ich die Kurve noch gekriegt beschriebene Episode anders zu sehen: Wir sind alle nur Menschen. Yogalehrer auch. Yogaübende auch. Wir alle. Wir geben jeden Tag und jeden Moment unser Bestes. Nicht mehr und nicht weniger. Was weiß ich über den Tag der Frau? Über die Termine, die sie hatte? Über ihre Gedanken und Beweggründe? Sorgen oder Nöte? Nichts. Die Situation sagt weder etwas darüber aus, ob sie eine tolle Lehrerin ist, noch, ob sie ein guter Mensch ist. Sie ist sicher beides. Sie zeigt vielmehr, wo überall Yoga auf uns wartet.
Was Yoga kann
Je mehr ich eintauche in die Welt des Yoga, in meine tägliche Praxis, auch in Yamas und Niyamas, desto öfter scheine ich die Wahl zu haben. Die Wahl zwischen Drama mit allem was dazugehört oder innerer Gelassenheit. Wenn das Ego Pause machen darf und eine mildere, nachsichtigere Stimme übernimmt. Yoga kann uns Ruhe geben, wo Hektik tobt, Kann uns Selbstbewusstsein und Stärke geben, für Momente der Unsicherheit und Irritation. Yoga kann unser Herz weiter öffnen und so Raum geben für Mitgefühl und Hingabe. Yoga kann so viel. Und doch bleibt es ein Weg. Es ist kein Schalter, den wir umlegen. Jeden Tag aufs Neue, jeden Moment lang entscheiden wir uns. Manches Mal unbewusst, dann weiß man nicht, welche Version ans Tageslicht tritt. Ich kann immer noch ungeduldig, albern, launisch, unkonzentriert oder selbstgerecht sein. Meine Familie würde hier eventuell sogar noch zwei, drei weitere Attribute beisteuern können. Manchmal jedoch entscheiden wir uns innerlich klar und bewusst und achtsam. Dann atmen wir tief durch und machen den Weg frei für etwas mehr Gelassenheit und Ruhe. Das sind die goldenen Momente. Da merke ich, dass Yoga eine Spur hinterlässt. Nicht nur im Körper, sondern vor allem im Geist.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen viel Nachsicht mit vermeintlichen Fehlern anderer, viel Licht und wenig Schatten, viel Spaß und wenig Ärger und vor allem viel Yoga. Namasté!
Was sich neben Asanas noch alles hinter Yoga verbirgt, kannst Du hier nachlesen:
- Warum Du mit Yoga geduldiger wirst
- Kleshas – die Wahrnehmungsverzehrer
- Yamas und Niyamas abseits der Matte
- Karma – das Gesetzt von Ursache und Wirkung