Von einem Seefahrer, der auszog, das Leben zu lernen

16 min
24.03.2023 00:00:00

Von einem Seefahrer, der auszog, das Leben zu lernen

Moribus, ein junger Mann in seinen Zwanzigern, war gelangweilt vom Leben. Regelmäßig tauchte er in eine Fantasiewelt ab. Er spürte ein großes Verlangen nach Abenteuern, eben solchen, wie sie die Helden der griechischen Mythologie erlebten, von denen er so gerne las. So wie Herakles mit den Argonauten wollte er durch die ägäische See fahren, um die Welt zu erkunden. Doch es fehlt im an nicht nur an Mut, sondern vor allem an der Vorstellung davon, wie er seine Reise beginnen sollte. Eines Nachts, als Moribus mal wieder schlaflos auf dem Rücken lag und verträumt nach oben starrte, suchte er den Himmel ab. Er ließ seine Blicke über die vielen schwach leuchtenden Himmelskörper schweifen. Plötzlich stockte ihm der Atem. Hoch oben am Firmament entdeckte er einen Stern, den er zuvor noch nie gesehen hat. Er war deutlich heller als alle anderen. Dieser Stern leuchtete so kräftig, dass er selbst durch den aufkommendem Nebel hindurch strahlte. Sogar nachdem er am folgenden Morgen erwachte, sah er den Stern am Tage leuchten. Sofort erzählte er seiner guten Freundin Anima von der Entdeckung. Ihr war gleich klar, um was es sich handelte. „Das, mein Freund, ist dein Leitstern. Er gibt dir die Richtung vor für deinen Lebensweg“. Als Moribus sie verwundert anschaute, bat sie ihn, sich vorzustellen, dass er mit diesem Stern durch ein langes Gummiband verbunden ist. „Jetzt versuche, dich davon zu entfernen“ forderte ihn Anima auf. „Mit jedem Schritt wird das Band straffer, bis ich erschöpft aufgeben muss“, stellte Moribus fest. Grinsend sah ihn seine Freundin an. Sie sagte, dass er sich nun in Gedanken auf den Stern zubewegen sollte. Freudig erwiderte Moribus „Je näher ich ihm komme, desto leichter fallen mir meine Schritte. Ich werde durch das Gummiband gezogen, ohne mich zu sehr abzumühen.“
Dieser hell leuchtende Himmelskörper ist dein Leitstern. Es ist die Vision, das Warum, der Sinn, dem du deinen Leben gibst. Wir alle haben einen solchen Stern. Aber keine zwei Menschen sehen den Gleichen. Deine Aufgabe ist es, einen eigenen Leitstern am Himmel zu finden. Wir alle setzen uns Ziele. Das ist gut, denn sie treiben uns an. Sie schieben uns von hinten und sind motivierend. Viel wichtiger aber ist es, eine Vision zu haben, denn sie zieht uns. Je klarer diese Vision ist, desto weniger fühlt sich Arbeit wie Arbeit an und desto weniger Ängste und Zweifel kommen auf.  

Der Leitstern

Das Wort Vision schreckt ab. Wir kennen es aus Unternehmen, aber nicht für den persönlichen Gebrauch. Jedoch sollten auch wir wissen, wohin die Reise geht. Wenn wir kein grobes Ziel vor Augen haben, enden wir im Zickzackkurs oder brechen aus Unwissenheit gar nicht erst auf. Deshalb brauchen wir etwas, das uns den Weg leitet. Ob du das dann Leitstern, Vision, Warum oder Sinn des Lebens nennst, sei dir überlassen. In seinem Besteller „Start With Why” beschreibt Simon Sinek den Golden Circle, in dessen Zentrum der übergeordnete, feststehende Sinn steht. Dieser ist dafür verantwortlich, Warum (Why) du etwas tust. Wie (How) du dem Sinn einen Schritt näherkommst und worin das Ergebnis (What) besteht, ist die praktische Anwendung des Warum. Wie findest du nun die Vision? Die Suche beginnt im Gespräch mit dir selbst. Durch Reflexion vergangener Erlebnisse leitest du ab, wie deine ideale Zukunft aussieht. Frage dich, was dich bisher glücklich gemacht hat, welchen Dingen du einen großen Wert beimisst und wie du im hohen Alter auf dein Leben zurückschauen möchtest. Denke an die langfristige Maxime. Willst du die Welt bereisen? Dir mit der Selbständigkeit die Freiheiten zurückholen, die in der Festanstellung verloren gegangen ist? Mehr Zeit mit der Familie verbringen? Oder einfach “dein eigenes Ding” machen? Eine Vision ist nicht starr. Sie darf sich mit dem Leben entwickeln. Dabei sollte sie abstrakt genug sein, um dir selbst Raum zu lassen. Die folgenden Fragen geben dir Anregungen für dein einsames Zwiegespräch. Schreine Stichpunkte dazu auf und formuliere die Vision in maximal zwei Sätzen.
  • Vergangenheit: Was wolltest du werden, als du jung warst? Welche Träume hast du aufgegeben? Welche Dinge haben dir in der Vergangenheit die größte Befriedigung gebracht? Welche haben dir am wenigsten Freude gemacht? Wann warst du so richtig in deinem Element?
  • Gegenwart: Was ist dir im Moment am wichtigsten? Was schätzt du am meisten wert? Bei welchen Aktivitäten vergisst du die Zeit? Was würdest du tun, wenn Geld keine Rolle spielt?
  • Zukunft: Wie soll sich dein Leben in der Zukunft anfühlen? Wie gestaltet sich ein perfekter Tag? Was willst du aus deinem Leben verbannen? Welche neuen Dinge bekommen zukünftig einen festen Platz? Wie sollen dich Menschen nach deinem Tod in Erinnerung behalten?
 

Die Destination

Immer noch überwältigt von der Entdeckung seines Leitsterns denk Moribus nun darüber nach, wie er diesem entsprechen kann. Er spürt eine schwerer werdende Last auf den Schultern. Soll er ihm blind folgen, ohne einen Plan zu haben? Wie in einem Moment der Erleuchtung kommt ihm eine Idee. „Warum nicht einfach das alte Segelboot von meinem Onkel nehmen und dem Stern entgegenfahren?“, fragte sich der junge Abenteurer. „Auf dem Weg dorthin wird sich alles andere schon von selbst ergeben“. Seinen Onkel davon zu überzeugen, ihm das in die Jahre gekommene Boot zu überlassen, benötigte nicht viel Überredungskunst. In den kommenden zwei Wochen arbeitete Moribus jeden Tag, um die alte Dame wieder in Schuss zu bringen. Nach etlichen schweißtreibenden Stunden war es dann soweit. Das Schiff lag im Hafen, die Außenseiten glänzten von dem frischen Anstrich und das Deck war blitzblank geschrubbt. Der stolze Besitzer setzte sich neben das Steuer und versank in Tagträumen. Er stellte sich vor, wie er aufs offene Meer rausfährt, den Wind im Gesicht spürt, Delfinen beim Spielen zusieht und am Abend den Sonnenuntergang am Horizont bewundert. Eine fiese Stimme in seinem Kopf beendete die schöne Fantasie abrupt, „Moribus, du Narr, du weißt weder, wie man so ein Boot steuert, noch hast du eine Destination vor Augen“. Enttäuscht, aber der inneren Stimme zustimmend, verließ er das Schiff und suchte Rat bei Anima. Die gute Freundin fand wie so oft aufmunternde Worte. Sie erklärte ihm, dass er sich auf seinen hell leuchtenden Leitstern verlassen solle. „Dieser hilft dir dabei, eine Reiseroute aufzustellen. Um dich ihm Stück für Stück zu nähern, benötigst du lediglich ein paar Meilensteine auf dem Weg. Einige Etappen sind nah, andere in weiter Entfernung“, sagte sie.
Je klarer deine Vision ist, desto leichter wird es dir fallen, daraus Ziele abzuleiten. Dabei ist es wichtig, eine Priorisierung nach Bedeutung und Arbeitsaufwand vorzunehmen. Für mich hat es sich bewährt, Ziele in einer Matrix mit unterschiedlichen Lebensbereichen und zeitlichen Dimensionen von 1, 6 und 60 Monaten aufzustellen. In einem Excel-Dokument lege ich, basierend auf meiner Vision, zunächst 5-Jahres-Ziele für Kategorien wie Gesundheit, Geld, Beziehungen und Wachstum fest. Daraus entwickle ich halbjährliche Ziele, die alle sechs Monate überprüft und angepasst werden. Die mittelfristigen Ziele wiederum breche ich in Monatsziele herunter. Jeweils am Monatsende stelle ich neue Ziele auf. Dabei überprüfe ich auch, ob ich auf dem richtigen Weg bin oder mich durch Dinge ablenken lasse, die mich nicht näher an die langfristigen Ziele heranbringen. Meine Monatsziele sind so konkret, dass ich daraus direkt Aufgaben für meine tägliche Arbeit ableiten kann. Die langfristigen Ziele sind abstrakter als die Monatsziele, müssen aber dennoch messbar sein. Wenn dein finanzielles Ziel darin besteht, in fünf Jahren ein monatliches Einkommen von 10.000 Euro netto zu haben, kannst du gut abschätzen, welche Meilensteine du in den nächsten Monaten erreichen solltest. Um die Ziele zu verwirklichen, musst du sie leben. Nicht einmal aufschreiben und vergessen, sondern dich immer wieder daran erinnern. Du könntest die wichtigsten Ziele jeden Morgen in einen Notizblock schreiben. Oder visualisieren, indem du die Augen schließt und dir ausmalst, wie es sich anfühlt, am Ziel angekommen zu sein. Wenn du Probleme bei der Festlegung von Zielen hast, stelle dir vor, wie dein perfekter Tag in der Zukunft aussieht. Vergleiche ihn mit deinem derzeitigen Alltag. Was muss passieren, um die Lücke zwischen Realität und Vorstellung zu schließen?  

Der Kompass

Nach dem Gespräch mit Anima schöpfte Moribus neuen Mut. Er lud seine Freundin ein, sich sein Boot anzuschauen. Dort angekommen, konnte sie kaum glauben, was aus dem alten Ding geworden ist. Um diese Leistung gebührend zu feiern, machten die beiden einen Abstecher in die nahe gelegene Hafenspelunke. Als sie die Tür öffneten, kam ihnen ein übler Geruch aus Zigarettenqualm und abgestandenem Bier entgegen. Ein dutzend finster dreinblickende Seemänner schauten sie fragend an. Moribus erzählte ihnen gut gelaunt davon, wie er es seinen griechischen Helden nachmachen und in See stechen will. Plötzlich brach lautes Gelächter aus. Sie fragten ihn, ob er überhaupt wüsste, wie man durch die gefährlichen Weltmeere navigiert. Er schüttelte beschämt den Kopf, woraufhin Anima ihn zur Seite nahm. Sie beruhigt ihren Freund mit einem Ratschlag: „Höre nicht auf die frustrierten Trunkenbolde. Nutze deinen inneren Kompass. Er wird dir selbst bei Nacht und Nebel dabei helfen, den richtigen Weg zu finden.“
Dieser Wertekompass leitet dein tägliches Handeln. Du nutzt ihn, um Entscheidungen zu treffen. Je klarer du deinen Wertemix kennst, desto genauer lässt sich der Kompass navigieren. Genauso wie eine Vision können wir auch Werte nicht verleugnen. Dein Bestreben sollte darin bestehen, diese Leitbilder möglichst gut kennenzulernen. Was ist dein authentisches Selbst? Wer bist du, wenn niemand zusieht? Werte sind ein großer Teil der Persönlichkeit. Sie verändern sich nach der Pubertät nicht mehr. Im Laufe der Zeit mögen sich einige stärker entfalten, andere werden unterdrückt, du kannst vor ihnen aber nicht davonlaufen. Wenn dir nichts am Umweltschutz liegt, du aber aus einem moralischen Pflichtgefühl heraus plötzlich Orang Utans in Borneo rettest, wird diese Motivation nicht lange anhalten. Entdecke, was dein Herz im Kreis springen lässt und erlaube dir, dich darauf einzulassen. Dich selbst mit deinen Werten kennenzulernen, ist keine leichte Aufgabe, da du nur deine eigene Perspektive siehst. Um einen objektivieren Blickwinkel zu bekommen, kannst du in einen Coach investieren oder mit kostengünstigeren Persönlichkeitstests beginnen. Empfehlenswert ist die Lymbic Map, eine Wertekarte mit sieben verschiedenen Typen. In einem Online-Test wird analysiert, wie stark Dominanz, Stimulanz und Balance bei dir ausgeprägt sind. Stehst du gerne im Wettbewerb? Brauchst du ständige Abwechslung? Wie hoch ist dein Wunsch nach Sicherheit? Der Wertemix verrät dir deine Grundmotivation, womit du weißt, was dich langfristig motiviert. Wenn du deine wichtigen Werte förderst, handelst du aus einer intrinsischen Motivation heraus. Diese macht das Erreichen deiner Ziele deutlich leichter. Tust du etwas, das dem Wertemix widerspricht, fühlt es sich nach Zwang an und benötigt mehr Energie. Wirst du beispielsweise durch Kreativität, Risikofreude und Individualismus angetrieben, verstärkt sich dein Antrieb mit der Selbständigkeit. Andersherum sind ausgeprägte Werte wie Sicherheit, Heimat und Familie ein Anzeichen dafür, dass ein Leben ohne festen Wohnsitz Konfliktpotenzial birgt.  

Der Seemannsgarn

Hochmotiviert verabschiedet Moribus seine treue Gefährtin und beschließt, noch heute in See zu stechen. Auf dem Weg zum Hafen trifft er Habitus und Timor, zwei der alten Seemänner aus der Spelunke. Stolz zeigt er ihnen sein Segelboot. Er erzählt von Leitstern und Kompass, aber als er wieder voller Vorfreude von seinem Vorhaben berichtet, schauen ihn die beiden mit entgeisterten Blicken an. „Junger Freund, bist du denn noch bei klarem Verstand? Weißt du nicht, dass da draußen Haie, Stürme, Nebel, Piraten und Eisbrocken auf dich warten. Sie alle können dein Schiff zum Kentern bringen“, sagte Timor mit ernster Miene. Habitus schloss sich an „Hast du nie vom Bermuda Dreieck gehört, in dem bereits tausende Seefahrer ihr Leben gelassen haben. Das Meer ist voller Gefahren. Wir alle haben schon Schiffbruch erlitten und bleiben jetzt lieber an Land. Gedenke meiner Worte: Nur wer nicht die Segel hisst, bewahrt sich vor dem Untergehen.“ Nachdem die beiden Seemänner weitere Horrorgeschichten zum Besten gaben, war Moribus völlig entmutigt. Wieder einmal wandt er sich in seiner Not an Anima. Am Telefon erzählte er vom Bermuda Dreieck und all den Gefahren, die auf den Weltmeeren lauern. Mit fester Stimme antwortete Anima: „Du hörst dich so an, als wenn du all diese Geschichten selbst erlebt hättest. Die alten Männer machen sich nur Sorgen um dich, weshalb sie dir solchen Seemannsgarn auftischen.“ Sie schwor am Telefon, dass sie schon mehrmals durch die Karibik gesegelt ist und dort nie Ungeheuer oder schwarze Löcher gesehen hat. Sie sagte, dass alles nur ein Mythos sei. Dass dort in Wirklichkeit die Zahl der Schiffsunglücke nicht höher ist als im Rest der Welt. Nun verstand Moribus gar nichts mehr, begann aber nachzudenken. Kann es sein, dass Anima recht hat? Warum weicht ihre Version der Geschichte so sehr von denen der Seemänner ab?
Heute lachen wir darüber, wie Menschen lange Zeit solche Angst vor Mythen haben konnten. Dabei glauben wir an unsere ganz eigenen Erzählungen. Es sind Fiktionen, die wir so oft gehört haben, bis wir sie für wahr halten. Früher waren es Legenden von Göttern und Ungeheuern. Heute sind es Geschichten von der unsichtbaren Hand des Marktes, heiligen Büchern, Gesetzen, Staatsgrenzen, Geld, politischen Systemen und noch viel wilderen Gedankenkonstrukten. Wir brauchen diese Fiktionen, denn sie sorgen dafür, dass das Zusammenleben in einer komplexen Welt funktioniert. Aber all diese Dinge sind nicht real. Sie existieren nur in unserem Kopf und werden dann Teil unserer Realität, wenn wir ihnen Glauben schenken. Ein vernünftiger Bildungsabschluss, ein Haus im Grünen, eine Karriere mit Firmenwagen, Familiengründung und die Bausparversicherung - das sind nur einige der erstrebenswerten Ziele, die uns die Gesellschaft mit auf den Weg gibt. Du hast jederzeit das Recht, den Kopf zu schütteln, wenn du solche Geschichten hörst. Etwas bejahen, das du innerlich verneinen möchtest, ist die höchste Form von Selbstverletzung. Das Resultat ist eine Unzufriedenheit, die sich nicht nur auf dich, sondern auch auf Menschen in deinem Umfeld auswirkt. Hinterfrage nicht nur diese Konventionen, sondern auch antrainierte Glaubenssätze, die dich ausbremsen. Mache dir Gedanken darüber, ob du aus vollem Herzen ja zu etwas sagen kannst oder ob es sich um selbstauferlegte Zwänge und Erwartungen Dritter handelt.  

Die Anker

Zuversichtlich stieg der junge Held nach dem Telefonat auf sein Boot. Jetzt konnte ihn nichts mehr von seinem Vorhaben abbringen. Die angsteinflößenden Geschichten wurden durch Anima relativiert, der Kompass eingestellt und das Ziel fest vor Augen. Moribus ließ sich von der romantischen Vorstellung treiben, endlich auf die offene See rauszufahren. Er löste die Leinen, hisste die Segel, bewegte sich aber trotz heftigem Wind nicht von der Stelle. Dutzende Anker hielten ihn im Hafen. Warum sind die ihm vorher nie aufgefallen? Sie sind so verrostet und mit kräftigen Knoten festgemacht, dass er sie nicht lösen konnte. Fragend saß Moribus auf dem Deck seines Schiffes und überlegte, wo all diese Anker hergekommen sind.
Im englischsprachigen Raum wird der Begriff anchored (verankert) für Menschen verwendet, die voll im Leben stehen. Sie haben im Hafen angelegt und sich mit schweren Ankern vor möglichen Stürmen geschützt. Die Anker aber haben sich so tief in den Meeresboden versenkt, dass das Schiff den sicheren Hafen nicht mehr verlassen kann. Eine Karriere zu haben, Eigentum anzuhäufen und sich bestmöglich abzusichern, gilt als normgerecht. Die meisten dieser Anker schleichen sich unbewusst in dein Leben ein. Sie sorgen, dafür, dass du dich mit zunehmendem Alter immer stärker an materielle Dinge und Verpflichtungen bindest, die dich letztendlich fremdbestimmen. Nun gibt es auch Anker, die durchaus positiv sind. Beziehungen, nützliche Besitztümer und soziale Verantwortung können einen Mehrwert schaffen. Es geht darum, jene verrosteten Anker über Bord zu schmeißen, die dich festketten, ohne dein Leben zu bereichern. Sinnvoll aber ist es, auf die Reise jene Anker mitzunehmen, die dich bei Unwettern absichern. Diese Sicherheitsanker schützen dich, indem sie dir in stürmischen Zeiten ein vertrautes Gefühl geben. Sie signalisieren deinem Kopf, dass alles okay ist, auch wenn ringsherum die Welt zusammenbricht. Solche Sicherheitsanker sind Routinen und Rituale, Mentoren und Gleichgesinnte, Familie und Freunde, vergangene Erfolge und eine starke Vision für die Zukunft. All diese Dinge sorgen dafür, dass das Schiff nicht beim ersten kleinen Sturm ins Wanken gerät. Einer meiner persönlichen Sicherheitsanker ist das Laufen. Egal, wo ich gerade bin und egal, wie sehr mich Zweifel belasten, nach einer Stunde Joggen sieht die Welt wieder anders aus. Mein Gehirn verbindet das Laufen mit einem positiven Gefühl. Es ist eine Routine, die mein Kopf kennt. Danach kann ich meine Probleme aus einer stärkeren Position heraus lösen. Ein zweiter Anker ist meine Wall of Fame. Das ist ein Textdokument, in das ich mir nette E-Mails und Kommentare von Lesern und Kunden kopiere. Wenn ich mal wieder am Zweifeln bin, geben mir diese Zusprüche Sicherheit. Für dich ist es vielleicht nicht das Laufen oder eine Wall of Fame, sondern ein Journal schreiben, Mastermind Gruppen, meditieren, singen oder tanzen. Egal, was es ist, schaffe dir diese Sicherheitsanker.  

Die Sirenen

Nachdem Moribus die Anker an Bord hievte, die leicht genug für die Reise waren, durchtrennte er die restlichen Schnüre mit einem Messer. Endlich begann die Fahrt in sein großes Abenteuer. Mehrere Wochen lang segelte er über die Weltmeere, seinen Leitstern immer vor Augen. Er besuchte exotische Inseln, sah Delfine neben dem Schiff aus dem Wasser springen und genoss den Wind in seinen Haaren. Eines friedlichen Tages hörte er einen lieblichen Gesang aus der Ferne. Er erinnerte sich an die Erzählungen aus der Hafenspelunke und stellte fest, dass das wohl die Sirenen sein müssen. Diese verführerischen Frauen, die Seemänner mit ihren Melodien anlocken und dann verderben. Sie sangen von Aktien, Kryptowährungen und dem schnellen Geld. Obwohl Moribus es besser wusste, gelang es ihm nicht, der der Versuchung zu widerstehen. Er verließ seinen Kurs.
Wir alle kennen diese Gesänge. Es ist die Angst davor, eine gute Gelegenheit zu verpassen. Fear of missing out oder FOMO, wie man im Englischen sagt. Unsere Rechtfertigung lautet dann, dass wir Multi-Potentials sind und eben diesen vielfältigen Potenzialen nachgehen müssen. Fokus und Ausdauer sind die Grundvoraussetzungen, um ein Ziel zu erreichen. Wenn du dich ständig von dem “neuen heißen Scheiß” ablenken lässt, machst du alles halb, aber nie etwas richtig. In einer Zeit, in der wir so viele Möglichkeiten haben und sich das Rad der Zeit immer schneller zu drehen scheint, wird Substanz zu einer verlorengegangen Qualität. Ist es nicht eine absolute Befriedigung, ein Thema in all seiner Tiefe zu durchdringen, anstatt überall nur an der Oberfläche zu kratzen?  

Der Schiffbruch

Als Moribus den verführerischen Gesängen der Sirenen folgte, zog plötzlich ein dichter Nebel auf. So dicht, dass er nicht mal mehr seine Hand vor dem Gesicht sah. Es passierte, was passieren musste. Ein lautes “Rummms” schallte durch die Nebelschwaden. Das Boot hatte einen Eisblock gerammt. Moribus schaute sich den Schaden an und bekam es mit der Angst zu tun. Das Deck lief langsam aber sicher mit Wasser voll. Ein paar Minuten lang versuchte er, das Wasser abzuschöpfen, musste sich aber eingestehen, dass es zu spät war. Das Schiff wird sinken. Fragend stand er auf dem Deck und wog ab, ob er als Kapitän mit dem Boot untergehen oder wie die Ratten das Boot als erster verlassen sollte?
Beides ist nicht besonders smart. Wenn ein Schiff am Sinken ist, musst du nicht darauf bleiben, bis die Füße nass werden. Genauso solltest du nicht bei jedem Sturm sofort abspringen. Wenn eine Unternehmung über Monate hinweg mehr Energie kostet, als sie gibt, darfst du sie hinterfragen. Dann frage dich, ob es ein klares Warum für dein Vorhaben gibt? Warum tust du, was du tust? Warum existiert dein Unternehmen? Warum sollte sich jemand um deine Idee kümmern? Warum bist du in dieser Beziehung? Gibt es eine Existenzberechtigung, für dein Tun? Würde dich jemand vermissen, wenn du nicht mehr da wärst? Hast du keine klaren Antworten auf diese Fragen, schnappst du dir ein Rettungsboot und verlässt das sinkende Schiff. Mit einem Vorhaben zu scheitern kann eine wunderbare Chance für Wachstum sein, wenn du es dir eingestehst.  

Die Landkarte

Erleichtert, aber den Tränen nah, saß Moribus in seinem Rettungsboot und schaute dem sinkenden Schiff hinterher. Anstatt in Selbstmitleid zu versinken, holte er eine Karte aus seiner Jackentasche hervor. Nachdem er den Eisblock und die Sirenen auf seiner Landkarte eingezeichnet hatte, war er deutlich zuversichtlicher. Ihm war klar, dass er bei der nächsten Fahrt einen großen Bogen um diese Gefahren machen würde.
Stell dir vor, du hast eine solche Karte, mit der du durch dein Leben navigierst. Sie wird mit jeder Fahrt und jedem Jahr besser. Immer wenn du zum ersten Mal eine neue Destination ansteuerst, ist das Risiko für Zwischenfälle recht hoch. Auf dem Weg passieren unvorhergesehene Ereignisse. Stürme, Piraten oder Eisschollen begegnen dir und du musst die Route anpassen. Aber schon bei der zweiten Fahrt ist deine Karte deutlich ausgereifter, so dass du nicht mehr in die gleichen Hindernisse fährst. Eine furchtbare Statistik besagt, dass in Deutschland nur eine von zehn Gründungen erfolgreich sind. Alle anderen scheitern innerhalb der ersten drei Jahre. Diese Zahlen sorgen dafür, dass sich so wenig Gründer trauen. Viel seltener wird erzählt, dass die Erfolgsquote beim erneuten Anlauf deutlich höher ist. Leider versuchen es nur 11 % der gescheiterten Unternehmer ein zweites Mal. Beende deine Reise nicht, weil du irgendwo gestolpert bist. Stehe wieder auf, schüttele den Staub von den Klamotten und markiere den Stolperstein in deiner Karte. Beim nächsten Abenteuer kannst du diesem elegant ausweichen.  

Der Zwischenstopp

Ganze zwei Tage und Nächte lang ruderte Moribus in seinem Rettungsboot bis er endlich Land sah. Er legte an einem weißen Sandstrand an, wo er von den Einheimischen mit überschwänglicher Freunde in Empfang genommen wurde. Als er sich von den Strapazen erholte und bei frischem Mangosaft in einer Strandbar saß, entflammte wieder die volle Lebensfreude ihn ihm. Leise flüsterte er sich selbst zu, „Ich Glücklicher, dass meine Reise durch diesen Zwischenstopp an Qualität gewonnen hat“.
Auf Langstreckenflügen reicht das Kerosin nicht aus, um die Destination in einem Schwung zu erreichen. Der Flieger muss zwischenlanden, was nicht nur der Besatzung, sondern auch den Gliedmaßen der Passagiere eine Pause verschafft. Genauso wie das Flugzeug musst auch du das große Ziel nicht direkt ansteuern. Einen Stopover einzulegen, entspannt die Reise und sorgt dafür, dass du wohlbehütet an der Endstation ankommst. Versuche nicht, alle deine Ziele im Sprint zu erreichen. Bewege dich mit der nötigen Ausdauer langsam aber sicher auf deinen Leitstern zu. Als Unternehmer kannst du finanzielle Engpässe mit Freelancing überbrücken, bevor du den großen Wurf landest. Mit einer Muse, wie einem Online-Handel, Nischenseiten oder standardisierten Dienstleistungen, schaffst du dir Zeit für deine eigentlichen Leidenschaften. Du kannst als Sidepreneur nebenbei etwas aufbauen oder dich mit einem klassischen Nebenjob über Wasser halten. Sollte dich das Freelancing glücklich machen, bleib dabei. Verdienst du ausreichend Geld mit einer Muse und hast keine Ambitionen, ein weiteres Business zu starten, ist das okay. Wenn du deine Reise am Zwischenstopp noch nicht beenden willst, geht es jetzt erst richtig los. Das Endziel der Reise besteht darin, in Übereinstimmung mit deiner Vision, ein nachhaltiges Geschäftsmodell aufzubauen, dass dir dein Wunschleben ermöglicht. Dabei handelt es sich um eine Unternehmung, die sich an dein Leben anpasst, nicht andersherum. Du wirst vom Einzelkämpfer zum Entrepreneur, stellst ein Team ein und entwickelst das Geschäftsmodell weiter. Echte Freiheit schaffst du mit der Unabhängigkeit von einzelnen Angeboten und Auftraggebern. Wenn du nicht mehr direkt in den Prozess der Leistungserbringung involviert bist, hörst du auf, für dein Unternehmen zu arbeiten. Erst dann arbeitet dein Unternehmen für dich.  

Sei ein Pirat

Eine Woche nach der Rettung durch die freundlichen Inselbewohner machte sich Moribus wieder auf den Heimweg. Sein erster Besuch nach der Rückkehr galt Anima. Er wollte seiner Freundin alles von der abenteuerlichen Reise berichten. Aufgeregt erzählt er ihr von seiner langen Fahrt über die Weltmeere, den Delfinen, dem tragischen Schiffbruch und den Erkenntnissen, die er auf der See gewonnen hat. „Weißt du“, sagte er „ich habe unterwegs Piraten getroffen. Anfangs fürchtete ich mich vor ihnen, musste dann aber feststellen, dass sie freundliche Gesellen sind. Wusstest du, dass das lateinische Wort Pirata so viel bedeutet wie versuchen, unternehmen und auskundschaften.“ Anima ermutigte ihn, weiterzuerzählen. „Diese Piraten wählen selbst, welchen Regeln sie folgen und welche sie brechen oder biegen. Sie agieren, anstatt zu reagieren. Sie übernehmen die volle Verantwortung für Erfolge und Misserfolge. Diese Selbstbestimmung hat mich schwer beeindruckt.“ „Und jetzt willst du ein Pirat werden?“, fragte Anima mit einem Lächeln im Gesicht. „Nein“, antworte ihr Freund, „ich möchte ab und zu auch mal jemand anderem das Ruder überlassen. Aber ich bin mir jetzt darüber bewusst, dass ich anderen Menschen in dem Moment die Kontrolle über mich gebe, in dem ich sie für mein Schicksal verantwortlich mache“. Nickend stimmte sie zu und ergänzte, „Genau das Gleiche passiert, wenn wir blind an Geschichten festhalten, die uns ein Leben lang erzählt wurden, für uns aber nicht wahr sind.“ Glücklich darüber, solche Erkenntnisse gewonnen zu haben, schauten sich die beiden eine Weile schweigend an, bevor sie sie damit begonnen, angeregt Pläne für ihre zukünftigen Abenteuer zu schmieden.
  Selbstbestimmt zu leben und zu arbeiten, bedeutet Chancen wahrzunehmen. Diese Chancen existieren nur im unsicheren Raum. Wenn du deine gewohnte Umgebung verlasst, löst das ein Unwohlsein aus. Dieses Gefühl ist häufig ein Zeichen dafür, dass die Sache wirklich eine Bedeutung hat. Schiffe wurden nicht dazu gebaut, im Hafen zu verrotten. Also, setze dein Piratentuch auf, hisse die Segel und lasse dich treiben. Ob du morgen nach links oder rechts steuerst, ist dir im Alter von 80 Jahren egal. Wichtig wird dir dann nur sein, dass du in See gestochen bist.
Themen: Leben