Experiment Selbst-Quarantäne: 30 Tage in sozialer Isolation
Experiment Selbst-Quarantäne:
30 Tage in sozialer Isolation
Am 02. August 2018 habe ich mit ausreichend Essensvorräten eine schwedische Blockhütte bezogen. Die nächsten Nachbarn waren kilometerweit entfernt, Internet war Fehlanzeige, das Handy blieb aus. Die einzige Gesellschaft waren röhrende Elche, die einzigen Gespräche fanden im inneren Dialog statt. Am 30. August 2018 habe ich nach 30 Tagen auf dem Rückweg zur Autofähre erstmal wieder Menschen gesehen, telefoniert und WhatsApp aufgemacht. Die soziale Isolation startete mit einer emotionalen Achterbahnfahrt, die zum Ende hin angenehm ruhig verlief.Social Media, Nachrichten, Handyspiele, Tinder, Arbeitswahn, Drogen, Parties ... die Liste an Ablenkungen, mit denen wir unsere Langeweile und Sinnleere bekämpfen, ist endlos lang. Der Kopf muss jeden Tag so viele Informationen verarbeiten, dass die innere Stimme - der Kompass für unser Leben - keine Chance hat, zu Wort zu kommen. Wie auf einer Müllhalde wird Schicht für Schicht weiter aufgetragen, bis wir völlig überladen sind. Die Sinne brauchen Ruhezeiten, um all diese Impulse verarbeiten zu können. Erst dann hat unser Unterbewusstsein die Chance, Kontakt zu uns aufzunehmen. Dann können wir einen Blick auf den Goldschatz erhaschen, der sich unter dem Müll verbirgt.Die Müllhalde der Eindrücke aufräumen, statt immer weiter aufzuschichten
Wenn wir allein sind, tun die meisten von uns genau das, was auch ich lange getan habe: wir lenken uns ab. Das Gefühl, gerade nichts Sinnvolles zu tun oder gebraucht zu werden, ist so quälend, dass wir die Sinne mit allerlei Sinnlosem betäuben. Die Langeweile ist der Wächter zur Seele, weshalb wir sie willkommen heißen sollten. Erst wenn ich sie ein paar Stunden lang ertrage, ohne mich abzulenken, werden lange nicht gedachte Gedanken an die Oberfläche gespült. Dann räumt der Kopf auf, verknüpft vergangene Erlebnisse und schafft Klarheit für zukünftige Entscheidungen. Ganz nebenbei sorgt die Langeweile, wenn ich sie denn aushalte, auch für ungeahnte Kreativität.Langeweile ist der Vorbote für kreative Gedanken
Mit wem treffe ich mich am Freitagabend? Wo gehe ich heute zum Essen hin? Was ziehe ich zur Arbeit an? Wo verbringe ich den nächsten Urlaub? Soll ich das Ticket für das Konzert wirklich kaufen? Viele dieser alltäglichen aber auch größeren Entscheidungen nicht treffen zu müssen, ist ein absoluter Segen. Genauso erging es mir in meiner schwedischen Blockhütte in 2018, so geht es mir auch gerade in Corona-Zeiten. Es fühlt sich so an, als wenn im Internetbrowser statt der üblichen 30 Tabs nun nur noch 3 offen sind. In einer Zeit, die durch Multi-Optionalität bestimmt wird, in der wir jederzeit alles machen, in der alles ständig verfügbar ist, haben wir plötzlich Ausgangs-, Reise-, Kontakt- und Konsumbeschränkungen. Nun kann ich mich meiner persönlichen Freiheit beraubt fühlen oder diese wegfallende „Qual der Wahl“ als Geschenk betrachten. Dinge gewinnen wieder an Wert, wenn sie nicht ständig verfügbar sind.Der Segen, sich nicht ständig entscheiden zu müssen
Ich habe mein Leben lang gelernt, mich durch meinen Job, mein Aussehen, das Bankkonto und andere Oberflächlichkeiten zu definieren. Je mehr Zuspruch ich von anderen bekam, desto geliebter habe ich mich gefühlt. Zuhause, allein mit mir, habe ich es dennoch nie lange ausgehalten. Dann musste ich schnell wieder raus, mich ablenken, wieder nach Bestätigung betteln. Ein Monat in sozialer Isolation hat mich gelehrt, dass der eigene Selbstwert aus dem Inneren kommen muss. Dass ich im normalen Alltag viel zu viele Dinge tue, um Belohnungen zu bekommen oder Bestrafung zu vermeiden. Dass ich besser trennen muss zwischen dem, was ich wirklich will, und dem, was andere von mir erwarten. Die Kontaktbeschränkung nach außen kann eine großartige Chance sein, um die Beziehung zum inneren Selbst zu vertiefen. Schließlich ist das der eine Kontakt, den wir ein Leben lang nicht loswerde. Warum also nicht Freundschaft schließen? Wirklich frei ist letztendlich nur der, der allein sein kann.Wer sich selbst ein guter Freund ist, ist nie allein
Im Alleinsein bin ich nur auf mich gestellt. Dann lerne ich, unabhängiger von äußeren Bedingungen zu sein. Dann entwickle ich ein Selbstvertrauen, das weder von Facebook Likes noch von meinem Kontostand abhängt. Dann werfen mich Krisen wie die Corona-Epidemie nicht aus der Bahn. Chancen für Wachstum liegen in diesen unsicheren Zeiten. In der Komfortzone, in der sich nur bekannte Abläufe wiederholen, ist es gemütlich, jedoch steigt dort die Unzufriedenheit von Tag zu Tag. Sinn und Zufriedenheit finde ich in diesen unsicheren Räumen, in denen ich Probleme als Herausforderungen sehe, diese annehme und daran wachse. Wenn wir einer vermeintlichen Krise mit Angst begegnen, treffen wir panische, kurzfristige Entscheidungen, die wir langfristig oft bereuen. Und wir lenken den kompletten Fokus auf Probleme, wodurch diese immer größer werden. Warum also nicht mal die Nachrichten abstellen und auf all die Dinge fokussieren, die wir in unserem Leben selbst kontrollieren können.Wer die Unsicherheit umarmt, kann als Mensch wachsen
Drei Optionen, die wir generell haben, um auf Situationen zu reagieren. Der Moment zwischen dem, was gerade um uns herum passiert und wie wir daraufhin handeln, darin liegt die große Freiheit. Wie wir auf etwas reagieren, liegt immer in unserer Hand, ganz egal, wie dramatisch die Lage auch erscheint. Als ich diese Worte schreibe, sitze ich auf einer kleinen Insel in Malaysia. Ändern kann ich an der seit zwei Monaten andauernden Ausgangssperre nichts. Weg kann ich aufgrund der Reisebeschränkungen und teuren Flüge auch nur schwerlich. Also freunde ich mich mit der Situation an. Ich lerne, sie zu lieben. Generell glaube ich, dass uns in den kommenden Jahren viele Veränderungen (oder Krisen) bevorstehen. Ob die Auslöser dafür nun der Wille eines Gottes, Mutter Natur oder politische Verschwörungen sind, ist komplett egal. Wichtig ist, dass ich lerne, mich auf diese Veränderungen einzustellen. Das schaffe ich, indem ich sie begrüße, das Positive darin sehe. Indem ich weniger an meinem Lebensstandard hafte. Indem ich nicht meinen Kontostand, den Job, Besitz oder meinen Lebenslauf als vermeintliche Sicherheit betrachte, sondern das Vertrauen in mich selbst und die Welt trainiere. [caption id="attachment_8764" align="aligncenter" width="900"] Schweden 08/2018: Eine ernsthafte Diskussionen mit der inneren Stimme[/caption]„Love it, leave it or change it“
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