Die Krabbe oder warum Freunde pures Gift sein können
Aufgewacht: Kurze Stories für die großen Aha-Momente
Martin hatte eine wundervolle Kindheit. Viel Sonne, eine schöne Behausung direkt am Meer und immer genügend Würmer, Muscheln und frische Algen zum Fressen. Was sollte sich eine junge Krabbe mehr wünschen?
Doch eines Tages wendete sich das Blatt. In einem Moment der Unachtsamkeit verdunkelte sich die Sonne und Martin fand sich in der Hand eines Krabbenfängers wieder. Nach einigen Minuten, die ihm endlos vorkamen, wurde er in einen roten Plastikeimer geschmissen.
Als er seine vorübergehende Benommenheit überwunden hatte, wurde Martin klar, dass er nicht alleine war. In dem Eimer befanden sich mindestens 50 seiner Leidgenossen, die alle panisch hin und herrannten. Die ganze Situation stellte sich chaotisch dar. Jeder fürchtete um sein Leben. Martin versuchte sich zu orientieren, schaute nach oben, sah den Himmel und fragte sich, warum niemand auf die Idee kam, hoch zum Eimerrand in die Freiheit zu klettern. Sie waren schließlich Krabben, die ihr Leben lang nichts anderes taten, als gefährliche Steilküsten rauf und runter zu laufen. Er fasste sich ein Herz und begann, sich aus dem Gewühl zu befreien. Er näherte sich dem rettenden Eimerrand. Nur noch wenige Zentimeter. Er konnte die Freiheit schon riechen, als er plötzlich an den Hintergliedern festgehalten und nach unten gerissen wurde.
Völlig irritiert und wütend zugleich, riss er sich los. Martin hatte die Kampfeslust gepackt. Er versuchte erneut, den Eimerrand zu erklimmen, nur um wieder von einigen seiner Artgenossen runtergezogen zu werden. „Was soll das?“, schrie Martin voller Unverständnis, „Wir sitzen doch alle im gleichen Eimer. Warum lasst ihr mich nicht raufklettern in die Freiheit?“ Die anderen Krabben schauten ihn verwundert an und entgegneten ihm im Chor: „Wenn wir hier nicht rauskommen, dann gehst du auch nicht.“
Die Krabbenmentalität
In der Soziologie gibt es den Begriff Krabbenmentalität. Dieses Verhalten bezeichnet Krabben, die in einem Eimer gefangen sind und sich gegenseitig daran hindern, in die Freiheit hinauszuklettern. Die Gruppe schließt sich zusammen, um eine einzelne Krabbe daran zu hindern, frei zu sein.
Der kollektive Untergang steht über dem Erfolg Einzelner. Für Krabbenfischer ist das praktisch, denn sie brauchen für ihre Eimer keine Deckel. Dieses kuriose Verhalten gibt es natürlich nicht nur bei Krabben. Du hast das sicher schon bei Personen in deiner Umgebung beobachtet. Angst, Neid, Gier oder einfach Unverständnis führen dazu, dass sich Menschen gegenseitig Steine in den Weg legen. Aus welchen Gründen auch immer, scheint dieses Gruppenverhalten tief in unseren Gehirnen verankert zu sein.
Der Wunsch danach, Verluste zu vermeiden ist deutlich stärker als der Drang nach Belohnung. Jedes Mal, wenn jemand Erfolg hat, denkt das Gehirn, dass wir ein Stück des Kuchens abgeben müssen. Dass der Kuchen für die gesamte Gemeinschaft größer geworden und damit auch wir mehr davon hätten, begreift der Verstand nicht instinktiv. Wenn die Krabben weniger egoistisch wären, dann würden sie sich einfach alle auf einer Seite des Eimers versammeln. Der Eimer würde umkippen, damit kämen alle zur gleichen Zeit frei und niemand müsste sich ungerecht behandelt fühlen.
Falsche Freunde
Denke mal darüber nach, ob du Krabben in deinem Leben hast. Das können gute Freunde, Kollegen oder sogar die eigene Familie sein. Oder du bist es selbst, der andere zurückhält. Das passiert in der Regel nicht mit böser Absicht, sondern aus Angst. Es ist die Angst davor, dass jemandem in der Freiheit etwas zustößt. Oder noch schlimmer, dass es jemandem besser geht als allen anderen. „Tolle Pläne, aber jetzt sei doch mal realistisch“, lautet so ein typischer Ratschlag einer Krabbe. Immer wenn ich Freunden von meinen unkonventionellen Plänen erzählt habe, z.B. nach China zu ziehen, mich selbständig zu machen oder meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben zu verdienen, haben sie ganz unterschiedlich reagiert. Einige motivierten mich, andere wollten es mir ausreden.
Sie hatten Angst um mich, wahrscheinlich weil sie selbst keine Risiken mögen.
Aber nur weil diese Menschen Stabilität bevorzugen, anstatt sich auch mal auf Unsicherheit einzulassen, muss ich mich nicht von ihnen abhalten lassen. Ich nehme die Einwände an und versuche, ihre Perspektive zu verstehen. Wenn ihre Ratschläge der eigenen Angst entspringen, relativiere ich sie für mich. Als ich 2012 nach China gezogen bin, sind in den Jahren darauf viele Freundschaften zerbrochen. Das hat geschmerzt, denn schließlich kannten mich diese Menschen schon sehr lange und gut. Aber sie waren auch ein Teil meiner Vergangenheit, die ich hinter mir gelassen hatte.
Ich wusste, dass ich mir ein neues Umfeld schaffen muss, wenn ich mein Leben ändern wollte. Viele Freundschaften basieren auf gemeinsamen Postleitzahlen. Es sind Schulfreunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen. Aber echte Freundschaften brauchen mehr, als die räumliche Nähe. Sie brauchen geteilte Wertvorstellungen und Interessen.
Ich habe mittlerweile neue Freundschaften geschlossen. Es sind Menschen, die mich bedingungslos unterstützen. Sie kennen meine Vergangenheit nicht, aber sie sind Teil meiner Zukunft. Und wenn ich dann mal wieder in die Heimat fahre, um meine Familie und ein paar alte Freunde zu besuchen, dann fühlt sich das fast an wie eine Zeitreise. Dann ist es schön, daran erinnert zu werden, wo ich herkomme. Wenn es mir zu viel wird und ich das Gefühl habe, mich packt jemand an den Hinterbeinen, dann erzähle ich die Geschichte von den Krabben.
Nach kurzer Betroffenheit wird dann am Tisch das Thema gewechselt und alle machen mit ihrem Leben weiter wie bisher. Das ist okay, denn ich lasse mich nicht mehr in dem Eimer gefangen halten.
Bitte umgib dich mit Menschen, die schon dort sind, wo du hin willst. Sie sind es, die dich hochziehen können. Sie gönnen dir dein Glück. Bitte distanziere dich von Freunden, die in der Vergangenheit leben. Sie sind es, die dich immer festhalten werden. Sie sind es, die aus Angst handeln.