Der Portier oder wie Underdogs zu Gewinnern werden

4 min
24.03.2023 00:00:00

Der Portier oder wie Underdogs zu Gewinnern werden

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In einer Stadt mitten im Nirgendwo lebte in den frühen zwanziger Jahren ein Mann, der als Portier des örtlichen Bordells arbeitete. Genauso wie sein Vater und dessen Vater hat er in seinem Leben eigentlich nie etwas anderes getan. Die Aufgabe des Portiers bestand darin, das Freudenhaus sauber zu halten und Dinge zu reparieren, die hier und dort kaputt gingen. Ihm blieb die Chance verwehrt, zur Schule zu gehen, aber bei diesem Job verdiente er gerade genug, um ein einfaches Leben zu führen. Eines Tages wurde der Eigentümer des Bordells todkrank und starb kurz darauf. Sein Sohn übernahm das Familienunternehmen und mit ihm kamen viele Veränderungen. Die erste Anordnung betraf die Rolle des Portiers. „Ich möchte dich als meinen Portier behalten“, sagte der neue Besitzer. „Du warst meinem Vater treu und hast den Laden in Schuss gehalten, aber ich muss dir noch eine zusätzliche Verantwortlichkeit geben.“ „Kein Problem“, sagte der Portier. „Neben den handwerklichen Aufgaben möchte ich, dass du Feedback von den Gästen sammelst. Ich brauche einen monatlichen Bericht mit allen Rückmeldungen.“ Der Portier kam ins Stottern und erwiderte: „Sir, das würde ich gerne tun, aber leider bin ich nie zur Schule gegangen, kann also weder lesen noch schreiben.“ So sehr der neue Eigentümer den treuen Portier behalten wollte, passte dieser nicht mehr in die Planung für das Bordell. Er musste ihn kündigen. Am nächsten Tag, während er zu Hause saß, starrte der Ex-Portier auf den Staub, der sich um sein Haus herum angesammelt hatte, und dachte: „Was zum Teufel soll ich jetzt mit meinem Leben machen?“ Dann klopfte es an der Tür. Es war ein Nachbar, der einen Hammer ausleihen wollte. Der ehemalige Portier erklärte dem Nachbarn seine Situation und fragte, ob er den Hammer kaufen würde, statt ihn zu leihen, da er sich nicht sicher war, wie er von jetzt an seinen Lebensunterhalt verdienen würde. Der Nachbar sagte gerne zu und beschloss, auch eine Schachtel Nägel von ihm zu kaufen. Da es eine kleine Stadt war, machte das Wort schnell die Runde. Schon bald kamen mehr Nachbarn, um sein Werkzeug zu kaufen und ihm damit unter die Arme zu greifen. In weniger als einer Woche hatte er keine Werkzeuge mehr, aber immer mehr Leute kamen zu ihm. Schließlich war der nächste Eisenwarenhandel zwei Tagesreisen mit dem Maultier entfernt und außer ihm hatte kaum jemand Zeit, diesen Ritt auf sich zu nehmen. Also beschloss er, eine Liste mit allen Werkzeugen zu machen, die seine Nachbarn wollten. Dann schnappte er sich sein Maultier und begab sich auf den langen Ritt in die nächste Stadt, um alle Werkzeuge zu kaufen. Anfangs musste er einmal im Monat zum Einkaufen, dann zweimal und schließlich jede Woche. Jeder in seiner Stadt hatte mittlerweile davon gehört, dass der ehemalige Portier Werkzeuge verkauft. Da er bald keine Lust mehr hatte, so oft in die nächste Stadt zu reiten, ließ er sich die Werkzeuge in großen Mengen schicken. Ein paar Monate darauf konnte er es sich schon leisten, einen eigenen Laden anzumieten. Leute aus anderen Städten in der Umgebung kamen extra wegen der Werkzeuge zu ihm. Das Geschäft boomte, es war ein voller Erfolg. Ein paar Jahre später beschloss er, einen Baumarkt zu eröffnen, um den hohen Anforderungen seiner Kunden gerecht zu werden. Es war eine feierliche Eröffnung. Sie hatten Ballons, eine kleine Bühne für die lokale Band, Sonderangebote und kostenlose Werbegeschenke. Fast die ganze Stadt kam zum Feiern. Bald war er Millionär und da er gar nicht so viel Geld brauchte, ließ er davon eine Schule bauen, damit alle Kinder lesen und schreiben lernen. Als der Bürgermeister ihn bat, als Erster im Goldenen Buch der Schule zu unterschreiben, flüsterte ihm der Ex-Portier zu: „Es tut mir leid, Herr Bürgermeister, aber ich bin nie zur Schule gegangen. Ich weiß nicht, wie man liest oder schreibt.“ Der Bürgermeister war überrascht. „Was, sie wissen nicht, wie man liest oder schreibt, und konnten dennoch so ein Imperium aufbauen? Weiß Gott, was Sie heute tun würden, wenn Sie lesen und schreiben könnten.“ Der Mann dachte für eine Sekunde nach und antwortete: „Herr Bürgermeister, ich weiß, was ich heute tun würde, wenn ich lesen oder schreiben könnte. Ich würde als Portier im örtlichen Bordell arbeiten.“
 

Der Vorteil von Underdogs

Diese Geschichte, die ich hier frei übersetzt habe, stammt aus einem Buch von Jorge Bucay, der sie aus dem jüdischen Talmud entnommen hat. Sie erzählt von vermeintlichen Nachteilen, die sich durch Einfallsreichtum später als großes Glück herausstellen. Jemand mit einer Lernschwäche oder Kinder, die in armen Haushalten groß geworden und nicht von der Natur begünstigt wurden, können genau daraus später im Leben einen Vorsprung gewinnen. Vermeintlichen Underdogs bleibt gar nichts anderes übrig, als trickreich zu sein und sich mehr anzustrengen, um ihre Nachteile auszugleichen. In Hollywood Filmen sehen wir es oft, dass der Underdog den übermächtigen Gegner schlägt. Oder auch in der biblischen Erzählung von David gegen Goliath. Malcom Gladwell hat den Kampf von David und Goliath analysiert. Er kommt zu dem Schluss, dass der Riese Goliath in Wirklichkeit nie eine Chance hatte gegen den Schafhirten David. Goliath war unbeweglich, wahrscheinlich halb blind und trug nur Nahkampfwaffen bei sich. David hingegen war geübt mit der Schlinge, die damals als eine der gefährlichsten Waffen galt. Im Vergleich wäre es wohl so, als wenn man Arnold Schwarzenegger gegen einen Scharfschützen antreten lassen würde. So wird eine Tugend oft aus der Not geboren. Der Portier in der Geschichte hatte keine hohen Erwartungen an sein Leben. Ihm war das gleiche Leben vorbestimmt, wie auch schon seinem Vater und dessen Vater. Aus eigener Motivation hätte er wohl kaum eine Veränderung angestoßen. Es brauchte die Krise, die von außen hervorgerufen wurde. Nach der Kündigung hat sich der Portier auf seine Stärken besonnen, um die fehlende Schulbildung auszugleichen. Seine handwerkliche Begabung und die viele Zeit, die er hat, um das Werkzeug in der weit entfernten Stadt einzukaufen, sind zwei Vorteile, die nicht sofort offensichtlich sind. Der Portier hätte sich genauso gut anpassen und lesen und schreiben lernen können. Glücklicherweise hat er nicht den Anstrengenden, sondern den kreativen Weg gewählt. Was bedeutet das für uns? Wir müssen uns nicht immer anpassen, sondern sollten uns viel öfter auf unsere Stärken besinnen. Das Leben wird uns immer wieder vor Herausforderungen stellen. Entweder durch Krisen oder weil wir diese proaktiv suchen. Wenn wir darin Chancen sehen und diese meistern, stärken wir unsere Fähigkeiten, unseren Mut und unser Selbstbewusstsein. Mit jeder Herausforderung, die wir annehmen, vergrößern wir unseren Handlungsspielraum.  

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Themen: Leben