Traumleben vs. Realität: Wie du die Person wirst, die du sein möchtest

6 min
24.03.2023 00:00:00

Traumleben vs. Realität: Wie du die Person wirst, die du sein möchtest

Ohne Fleiß kein Preis. Sprichwort
Ich erzähle dir eine kleine Geschichte. Sie beginnt ganz gaaanz früh morgens in Deutschland: 4.30 Uhr. Der Wecker klingelt. Im Bett mache ich meine Dankbarkeitsübungen und höre positive Affirmationen. Danach ist es Zeit, meinen „Cold Brewed Coffee“ zuzubereiten. Doch vorher noch ein paar Sonnengrüße und zum Abschluss eine Meditation von einer meiner Apps, um „zen“ in den Tag zu starten. Zum Frühstück gibt es eine frisch zubereitete grüne Bowl, denn die enthält am wenigsten Zucker, und Zucker ist ja eh Schnee von gestern. Heute gibt es Erythrit oder Stevia. Es ist 7.00 Uhr. Noch entspannt unter die Dusche, am Ende nochmal kalt abduschen, aber mindestens für eine Minute, denn das soll das Immunsystem nochmal so richtig nach vorn bringen. Wow, das fühlt sich gut an. 7.10 Uhr. Eincremen und die Haare machen aber nur mit Produkten, die ohne Tierhaltung bzw. vegan hergestellt worden sind. Und Fair Trade. Denn alles andere ist unverantwortlich. 7.20. Ich ziehe mir meine Second Hand Klamotten an und verlasse das Haus, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Hast du dir so etwas auch schon mal vorgenommen? Und mal ehrlich, wie sah eigentlich die Realität aus? 7.30 Uhr: Ich habe auch meinen zweiten Wecker überhört, stehe ohne duschen auf, ziehe mir schnell etwas über und laufe zur Arbeit. Ich fühle mich irgendwie schlecht, weil ich mir so viel vorgenommen habe und nichts davon geschafft habe. Stattdessen kaufe ich mir doch lieber ein belegtes Brötchen beim Bäcker und das, obwohl ich doch mal wieder weniger Gluten essen wollte. Ich merke, wie meine „scheißegal“-Laune eintritt und kaufe mir auch noch ein Schokocroissant. Heute Abend kann ich ja wenigstens noch laufen gehen. Etwas deprimiert, dass ich nichts geschafft habe, öffne ich gedankenverloren Instagram und Tinder und switche hin und her während ich in der Bahn zur Arbeit sitze. Ich fühle mich unattraktiv, müde und weniger sportlich als ich es eigentlich sein wollte. Ich vergleiche mich mit den Insta-Models während ich an meinem Schokocroissant knabbere. Auf der Suche nach Bestätigung, dass alles doch nicht so schlimm ist, verabrede ich mich für heute Abend mit einem Mann für ein Blind Date. Das Date verläuft eher so mittelmäßig, er redet irgendwie nur von sich selbst, es kommt keine richtige Verbindung zustande, ich trinke mehr Alkohol als ich eigentlich wollte, um den Abend zu ertragen. Abends im Bett esse ich noch eine Tüte Chips, weil der Kühlschrank nichts anderes mehr hergibt. Ich schaue mir zum Einschlafen eine Folge von meiner Lieblingsserie auf Netflix an.  

Wunschvorstellung, Realität und Konsum

Das Wunschbild und die Realität weichen oft beträchtlich voneinander ab. Wir werden tagtäglich mit diversen Medien konfrontiert, die uns suggerieren, wie perfekt unser Leben sein könnte. Wir müssen nur Produkt A, B oder C kaufen, uns etwas mehr bewegen, noch etwas achtsamer sein und wir seien glücklich. Instagram und andere Medien zeigen, dass das möglich ist. Lauter wunderschöne Frauen, Männer am Strand, die Eis essen, aber trotzdem den perfekten Körper haben, das perfekte Leben zu haben scheinen. Die Frage, die in uns aufkommt, warum wir es nicht auch schaffen dieses Leben zu leben, welches uns auf dem Silbertablett serviert zu werden scheint.  

Von Einsamkeit und Depression

Konsum entwickelt sich zur neuen Religion. Man muss aber nicht daran glauben. Glaßl
Die Kluft zwischen dem, wer wir sein wollen und wer wir aber wirklich sind, scheint von Tag zu Tag größer zu werden, einhergehend mit einem Gefühl von Ungenügen und Einsamkeit. Diese Kluft füllen wir dann oft mit Konsum. Wir kaufen uns Produkte, die uns das versprechen, was wir uns innerlich wünschen: glücklich zu sein. In Wahrheit lenken wir uns aber nur selbst von uns ab, wir fühlen uns noch einsamer. Bei vielen endet dieser Kreislauf in Missbrauch von verschiedenen Substanzen bis hin zur Depression und die Einnahme von Medikamenten. Ich habe hierzu vor einiger Zeit ein Video gefunden, welches unser derzeitiges Leben ganz gut zu beschreiben scheint: https://www.youtube.com/watch?v=e9dZQelULDk   Laut einer WHO-Studie steigt die Zahl der Menschen mit Depressionen weltweit rasant. 2015 waren rund 322 Millionen Menschen von der Erkrankung betroffen. Das sind 4,4 % der Weltbevölkerung. 10 Jahre zuvor waren noch 18% weniger Menschen betroffen. Chisholm, einer der Autoren der Studie gibt an, dass Depression heute weltweit die Hauptursache für Lebensbeeinträchtigung sei. Zum Vergleich: Rund 35 Millionen Menschen leben mit Krebs. Depressive Symptome verweisen auf „Anpassungsstörungen“ und Entwicklungsprobleme: Die betroffene Person erlebt ihre Lebensumstände als aversiv und sieht kaum Chancen für eine positive Veränderung; Sinnverluste, Motivationsdefizite und Selbstwertprobleme sind typische Folgen. Es wird kompensiert, zum Beispiel in Form von Konsum. (Brandtstädter, 2015)  

Vom Innehalten

Welchen Weg gibt es heraus diesem Kreislauf, der bei vielen bereits zum Teufelskreis geworden ist? In Zeiten von Selbstoptimierung und Konsumgesellschaft kannst du dir zunächst ein paar Fragen stellen, um einen ersten Schritt aus dem Gefühl, nicht gut genug zu sein oder nicht zu genügen, heraus zu machen. Es geht im Folgenden darum, deine Selbstwirksamkeit zurückzuerlangen. Also das Gefühl, dass du dein Leben selbst in der Hand hast. Schaue zunächst einmal auf dein kompensatorisches Konsumverhalten: Mit Konsum kann alles Mögliche gemeint sein: Kleidung kaufen, essen, fernsehen, auf Partys gehen, Alkohol trinken. Es ist bezogen auf den Aspekt, dass wir Menschen uns Dinge von außen zuführen, um möglicherweise entspannen zu können. Kurzfristig ist der Konsum super, wir fühlen uns gut, das Belohnungssystem im Gehirn wird aktiviert. Doch langfristig ist es keine Lösung des Problems. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben weiterhin das Gefühl, dass wir etwas im Leben vermissen, aber wir wissen nicht genau was. Darum konsumieren wir mehr, weil wir das Gefühl haben, dass das die Lösung unseres Problems sein könnte. Wir daten, gehen auf Parties, sind immer unterwegs, kaufen das neueste Smartphone etc. Aber sie kommt immer wieder: Diese Leere ... Wie können wir dieses scheinbare Fass ohne Boden füllen? Die Antwort lautet: Finde zu dir selbst. Es klingt etwas esoterisch, aber ich erkläre hier näher die Bedeutung: Zu uns selbst finden, bedeutet einfach erst einmal Stille und Pause aushalten zu können. Oft haben wir das Gefühl, wir müssen den Tag sinnvoll füllen und haben schon fast ein schlechtes Gewissen, wenn wir mal "nichts tun". Genau dieses nichts tun, die Stille um uns herum, ermöglicht es uns wieder atmen zu können. In der Ruhe entsteht Kreativität, im Stress entsteht eingeengtes Denken. Fragen, die du dir also nun stellen kannst, sind folgende:
  • Wo im Leben konsumiere ich, um mich zu beruhigen, um runter zu kommen?
  • Welches Gefühl versuche ich mit dem Konsum zu erlangen?
  • Ist der Konsum gesund?
  • Wenn nein, gibt es gesündere Alternativen, um das erwünschte Gefühl zu bekommen?
  • Wann kann ich mir im Alltag einen Moment der Ruhe gönnen, um mal innezuhalten?
  Ich habe vor kurzem mit einem Freund über dieses „Innehalten“ gesprochen. Für ihn ist es unfassbar schwierig, mal ruhig da zu sitzen, schier unmöglich. Wenn du dasselbe Problem hast, bist du also nicht allein. Vielen anderen geht es auch so. Das braucht Zeit und Geduld. Einen ersten Tipp, den ich dir hier gerne an die Hand geben will, ist folgender:
  • Achte das nächste Mal, wenn du innere Unruhe verspürst und das Gefühl hast, dringend etwas unternehmen bzw. konsumieren zu müssen, einmal darauf, was du dir von der Unternehmung erhoffst.
  • Setze dich für einige Minuten hin und fühle in dich hinein.
  • Wie geht es dir gerade?
  • Welchen Aspekt versuchst du vielleicht wegzudrücken?
  • Welchen Aspekt willst du erleben?
  • Bleibe einige Minuten mit dem Gefühl und frage diesen Aspekt doch was es jetzt braucht von dir.
  • Warte die Antwort ab.
  • Wenn es z.B. "Ablenkung" ist, gehe dem nicht nach und schaue erst einmal, warum die die Ablenkung brauchst. Was ist dir heute widerfahren? Lasse die Situation nochmal Revue passieren und überlege dir was du daraus gelernt hast.
  • Vielleicht willst du in Zukunft etwas anders machen oder es gibt jetzt aktuell noch Handlungsbedarf. Laufe nicht vor der Situation davon, es wird dich irgendwann wieder einholen.
  Probiere dieses "Innehalten" immer öfter aus und beobachte, wie oft du eigentlich dazu geneigt wärst, dich abzulenken. Wie schon gesagt gilt hier: Übe dich in Geduld. So etwas geht nicht von heute auf morgen. Dennoch wird es sich lohnen. Auf Dauer wirst du merken, dass du viel gelassener wirst und dich selbst ein bisschen besser kennengelernt hast.  

Selbstkenntnis als Ausweg

Ein weiterer Nutzen von dieser Übung ist die Umkehrung von oben beschriebener Situation. Sobald ich „mehr bei mir selbst bin“, fühle ich mich weniger getrieben und erlege mir keinen Tagesablauf auf, der nicht zu mir passt. Bin ich „mehr bei mir selbst“, habe ich weniger Druck, irgendwer zu sein, mir oder der Gesellschaft etwas beweisen zu müssen. Es ist eigentlich logisch. Wenn ich nicht genau weiß, was ich will oder wer ich bin, dann versuche ich natürlich meine Umgebung nachzuahmen. Da alle auf eine bestimmte Art gepolt zu sein scheinen, macht es nur Sinn, wenn ich das Gleiche tue. Das ist die einfachere Variante. Schwieriger wird es, wenn ich erkenne, dass ich das, was mir die Umwelt suggeriert eigentlich gar nicht bin. Dann wird es Zeit darüber nachzudenken, wer ich bin und was ich eigentlich will, wofür ich eigentlich stehe. Keiner hat gesagt, dass Selbstreflexion ein Kinderspiel ist. Mein Leben bekommt dann aber einen ganz eigenen Sinn, meinen Sinn. Der Sinn, der als Fixstern für mich selbst fungiert, für niemand anderen. Danke, dass du dir Zeit für den Artikel genommen hast. Alles Liebe <3
Themen: Sinn