Der Zug oder über den wahren Wert eines Menschenlebens
Aufgewacht: Kurze Stories für die großen Aha-Momente
Bob steht kurz vor der Rente und hat den Großteil seiner Ersparnisse in ein seltenes Auto angelegt. Sein Bugatti hat einen hohen finanziellen Wert, lässt sich aber nicht versichern. Das Auto ist sein gesamter Stolz. Nicht nur beim Fahren hat Bob ein breites Grinsen im Gesicht, sondern auch, wenn er an den steigenden Marktwert des Oldtimers denkt. Der Bugatti ist seine Altersvorsorge. An einem schönen Sonntagnachmittag dreht Bob eine Runde in seinem Auto. Um sich die Beine zu vertreten, parkt er den Bugatti am Ende eines stillgelegten Abstellgleises. Er läuft an den Gleisen entlang, bis er an einer Weiche anhält und einen, außer Kontrolle geratenen Zug sieht. Der Zug ist unbemannt und rast in vollem Tempo auf ihn zu. Er dreht sich um und entdeckt auf der anderen Seite ein kleines Kind, das auf den Gleisen spielt. Das Mädchen ist total in Gedanken verloren, so dass es die große Gefahr des sich nähernden Zuges nicht erkennt. Bob kann den Zug nicht stoppen und das Mädchen ist zu weit weg, um seine Warnrufe zu hören. Was Bob aber tun kann, ist die Weiche über einen Umstellhebel umzulegen. Wenn er das tut, würde der Zug mit voller Kraft durch die Absperrung brettern und seinen Bugatti zerstören. Stellt er die Weiche nicht um, besteht das Risiko, dass das Kind nicht rechtzeitig von den Gleisen kommt und vom Zug überrollt wird. Bob entscheidet sich, den Lauf der Dinge nicht zu verändern. Er stellt die Weiche nicht um.
Das Auto oder das Kind? Dieses ethische Gedankenspiel kommt von dem Philosophen Peter Unger. Er will uns damit herausfordern. Wie viel sind wir bereit aufzugeben, um das Leben eines Kindes zu retten? Vor allem dann, wenn der Ausgang unsicher ist. Genauso sieht die Realität von Armut in Ländern der Dritten Welt aus. Hier ist noch eine weitere Gedankenübung: Stelle dir vor, du sitzt in einem Boot. Es ist sehr stürmisch und du siehst in unmittelbarer Nähe zwei kleinere Boote, die kurz vor dem Sinken sind. Eines der Boote ist bereits gekentert und eine Person klammert sich an das umgedrehte Boot. Du weißt, dass in dem anderen Boot fünf Passagiere im Innenraum eingeschlossen sind, kannst sie aber nicht sehen. Du musst dich entscheiden, denn es bleibt nicht genügend Zeit, um allen zur Hilfe zu kommen. Du siehst den einzelnen Mann, der sich an das Boot klammert, sprichst mit ihm und erfährst seinen Namen. Ansonsten weißt du aber nichts über ihn. Von den fünf Personen in dem anderen Boot weißt du überhaupt nichts, außer das sie bald sterben werden. Wen wirst du retten? Wenn wir keinen Grund zu der Annahme haben, dass die Rettung der einzelnen Person wichtiger ist, als die fünf Personen zu bergen, dann sollten wir versuchen, möglichst viele Menschenleben zu retten. Das würden wir von den Rettern auch erwarten, wenn wir in einem der Boote sind. Aber wie verändert sich die Situation, wenn wir der einzelne Schiffbrüchige sind, der sich an das Boot klammert?
Die bittere Realität
Es ist grausam, sich solche Fragen zu stellen. Ich möchte dir damit nicht den Tag verderben, aber leider fordert die Realität genau solche Entscheidungen von uns. Auch wenn die Sachverhalte im echten Leben deutlich abstrakter sind. Ein Beispiel dazu: Am 12. Mai 2008 hat ein tragisches Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan 70.000 Menschenleben gefordert. Über 370.000 Menschen wurden verletzt und über fünf Millionen waren in der Folge obdachlos. In den westlichen Medien bekam diese Tragödie nur wenig Aufmerksamkeit. Im Januar des gleichen Jahres musste das Nokia-Werk in Bochum geschlossen werden, worüber die Zeitungen monatelang berichteten. Wir sehen solche Schicksalsschläge im Fernsehen und lesen darüber in Zeitungen, spenden eventuell etwas an Hilfsorganisationen, gehen dann aber trotzdem unserem Alltag nach. Unser Kopf versucht zu verstehen, was dort passiert ist, die Emotionen bleiben aber meist unberührt. Es sind Fremde, die dort gestorben sind. Wir haben keine spezielle Verbindung zu ihnen. Auch wenn wir versuchen, Mitgefühl für Opfer von Tsunamis, Hurrikans oder Kriegen zu entwickeln und mit Geld und Freiwilligenarbeit vor Ort unterstützen, ist es trotzdem nur ein Bruchteil von dem, dass wir für unsere eigenen Landsleute bereit sind, zu tun. Wir bewerten das Leben eines Menschen, zu dem wir eine Verbindung haben, deutlich höher als das Leben eines Fremden. Im März 2018 habe ich mich im Rahmen eines Experiments in die Rolle eines Philanthropen begeben. Jeden Tag wollte ich eine gute Tat vollbringen. Ich habe Geld gespendet, Kindern vorgelesen, Essen für Obdachlose ausgegeben und eine Flüchtlingspatenschaft übernommen. In diesem Monat habe ich mir oft die Frage gestellt, was gerecht ist und wie ich einen kleinen Beitrag zur Chancengleichheit auf der Welt leisten kann. Soll ich Geld in der Ferne spenden, wo ein paar Euro einen gewaltigen Effekt haben können, oder soll ich in der Nachbarschaft durch Akte der Nächstenliebe helfen? Durch dieses Experiment bin ich auch in Kontakt mit dem australischen Philosophen Peter Singer gekommen, von dem die Gedankenspiele mit dem Zug und den Booten stammen. Auf die gestellten Fragen gibt es keine richtige Antwort. Sie sollen lediglich provozieren. Sie sollen verständlich machen, dass wir zwar sagen, dass alle Menschenleben gleich viel wert sind, diesem hohen ethischen Anspruch aber nicht gerecht werden. Als Mitteleuropäer gehören die meisten von uns zu den reichsten 10% der Welt. Unsere zwei Euro für den täglichen Kaffee überschreiten das Tagesbudget vieler Familien in den ärmsten Ländern. Zwei Milliarden Menschen müssen mit weniger als drei US-Dollar am Tag auskommen. Ich verstehe, dass wir auch vor der eigenen Haustür unsere Probleme haben: Arbeitslosigkeit, Altersarmut, Bedrohung durch Terroristen und das Bienensterben. Aber ich möchte das gerne ins Verhältnis setzen.
Die Ungleichheiten
In den ärmsten Ländern der Welt stirbt jedes fünfte Kind, bevor es fünf Jahre alt wird. Über fünf Millionen Kleinkinder sterben jedes Jahr an Ursachen wie Durchfall, Masern oder mangelnder Ernährung. Das sind 13.700 Todesopfer am Tag, die armutsbedingt und vermeidbar sind. Sie sind weit weg. Nicht sichtbar für uns. Ich habe in China miterlebt, wie Familien entscheiden mussten, ob sie ihre Ersparnisse für die lebensnotwendige Operation des Onkels ausgeben oder ihn sterben lassen. Geld oder Leben, lautete die Frage. Die Entscheidung fällt viel zu oft zugunsten des Geldes aus. Solche Probleme haben die wenigsten von uns. Die wenigsten von uns müssen täglich überlegen, wie sie Essen auf den Tisch bekommen, wo sie heute Nacht schlafen und ob eine unbehandelte Grippe den Tod zur Folge haben könnte. Warum erzähle ich dir das alles? Ich bin alles andere als ein Wohltäter und möchte mich hier nicht als Moralapostel hinstellen. Lange habe ich selbst Rechtfertigungen genutzt wie „Ich weiß doch gar nicht, ob Spendengelder wirklich vor Ort ankommen oder dass dieser Obdachlose von dem Geld eh nur Alkohol und Zigaretten kauft“. Dabei kann ich einfach fragen. Ein kurzes „Hey, wie geht‘s dir. Kann ich etwas für dich tun?“, macht die Welt schon ein wenig besser. Seit einem Jahr spende ich 10% meines gesamten Einkommens an Organisationen, die ich persönlich kenne. Es fühlt sich gut an, einen Teil meiner vermeintlichen Sicherheit, meiner Zeit und meines Geldes den Menschen zu überlassen, die es wirklich brauchen. Und ganz nebenbei fühlt es sich auch gut an, nicht so sehr an meinem Wohlstand zu haften. In meinem Experiment in 2018 habe ich gesehen, dass vor allem die Menschen helfen, die selbst wenig haben oder sehr beschäftigt sind. Mitgefühl ist keine Frage des Kontostandes. Es ist eine Wahl, die wir alle haben.