Der Schuster oder vom Unglück, reich zu sein
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Lange vor unserer Zeit lebte ein Schuster mit seiner Familie in einem kleinen Haus in der Stadt. Er war bettelarm, aber stets fröhlich und zufrieden. Morgens, wenn er aufstand, pfiff er mit den Vögeln um die Wette, bei der Arbeit sang er munter seine Lieder und abends spielte er für Frau und Kind auf der Fiedel. Nicht selten kamen die Nachbarn zu Besuch, um gemeinsam mit ihm Musik zu machen. So arm der Schuster auch war, so führte er doch ein glückliches Leben. Direkt neben ihm wohnte ein reicher Kaufmann, der stets mürrisch und unzufrieden war. Morgens störte ihn das Pfeifen des Schusters, tagsüber das Singen und abends das Fiedelspiel, das von den lachenden Nachbarn begleitet wurde. So reich der Kaufmann auch war, so führte er doch ein unglückliches Leben. Der Kaufmann konnte es nicht ertragen, seinen mittellosen Nachbarn so gut gelaunt zu sehen. Also dachte er darüber nach, wie er dem Schuster seine Freude nehmen und ihn zum Schweigen bringen könne. Da kam ihm eine Idee. Er brachte seine ausgetretenen Schuhe zu seinem Nachbarn und bat ihn, diese zu flicken. Der Schuster nahm den Auftrag dankend an, da er an diesem Tage noch nichts verdient hatte. Als er die geflickten Schuhe am Abend zurückbrachte, zog der Kaufmann lächelnd einen Beutel voller Goldtaler hervor und überreichte ihn dem Schuster. Dieser wusste gar nicht, wie ihm geschah. Nie zuvor hatte er so viel Geld gesehen. Das war mehr, als er in zehn Jahren verdienen konnte. Als gläubiger Mann hinterfragte er diese Fügung des Schicksals nicht, sondern nahm die Bezahlung dankend an, verbarg den Beutel unter seinem Mantel und erzählte seiner Frau nichts davon. Stattdessen schlich er in die Abstellkammer, verschloss die Tür hinter sich und betrachtete den Schatz. Das glänzende, kalte Gold blendete die Augen und das Herz des Schusters und er sah es an wie den warmen Körper einer Geliebten. Zunächst versteckte er das Gold unter dem Bett, doch mitten in der Nacht wachte er auf und glaubte, dass Diebe das Gold stehlen wollten. Das Versteck wurde ihm zu unsicher und so nähte er das Gold in ein Kissen ein, bis ihm auch dieses Versteck nicht mehr sicher genug war. Am kommenden Morgen pfiff er nicht, denn er war erschöpft von den Albträumen, in denen Räuber ihn um seinen Schatz brachten. Tagsüber sang er nicht, da er an das Gold dachte. Er arbeitete kaum, denn er war ja nun reich. Aber ausgeben wollte er das Gold auch nicht. Er wollte es besitzen. Es zogen einige Wochen ins Land, nach denen die Schusterfamilie noch ärmer zu sein schien als zuvor. Es wurde auch trostloser, denn der Schuster spielte abends nicht mehr die Fiedel, und Nachbarn wollte er nicht gern zu Besuch haben, da er Angst hatte, sie könnten das Gold finden und stehlen. Der reiche Kaufmann saß nebenan am Fenster und freute sich über seinen gelungenen Plan. Das Herz des Schusters war vom Gold verblendet, doch zum Glück konnte es seine gute Seele nicht vollends einnehmen. Als der Schuster endlich sein eigenes Elend erkannte, wusste er, was zu tun war. Am Abend klopfte er an die Tür seines Nachbarn und sprach: „Lieber Nachbar, dein Gold lastet zu schwer auf meinem Herzen. Es ist viel besser bei dir aufgehoben.“ Bevor der Kaufmann antworten konnte, legte ihm der Schuster den Beutel vor die Tür und war auch schon davon. Am nächsten Morgen hörte man ihn wieder mit den Vöglein um die Wette singen.
Das Anhaften
Im Buddhismus gibt es das Konzept des Anhaftens. Nach Buddha leiden wir, weil wir an Dingen festhalten. Das können materieller Besitz sein aber auch Beziehungen, Erwartungen, Ziele und Denkweisen. Je stärker ich zum Beispiel an meinem Handy hänge, desto trauriger bin ich, wenn es mir gestohlen wird. Und je höher meine monatlichen Ausgaben sind, desto größer ist die Krise, wenn ich gekündigt werde. Damit meinen die Buddhisten nicht, dass ich mich nicht an schönen Dingen erfreuen kann. Ich soll eben nur mein Glück nicht davon abhängig machen. Was passiert, wenn ich mein Glück von einem Handy oder einem Gehalt abhängig mache? Dann kann es mir jederzeit weggenommen werden, ohne dass ich einen Einfluss darauf habe. Besitz und Geld machen weder glücklich, noch unglücklich. Auf die Einstellung dazu kommt es an. Wer eine Yacht kauft, um seinen Selbstwert zu erhöhen, wird nicht lange glücklich sein. Eine Wasserratte, die sich jedes Wochenende an dem Boot erfreut, hat eine ganz andere Einstellung dazu. Es ist der Unterschied zwischen Besitzen und Nutzen. Meine Beobachtung ist: Je größer das Glücksgefühl beim Kauf, desto kürzer hält es an. Wenn ich mir beispielsweise ein neues Handy kaufe, dann löst das keine Emotionen aus. Es ist ein verdammtes Handy. Der Besitz macht mich nicht zufrieden. Glücklich macht mich, wenn ich über Videotelefonie mit meinen Eltern sprechen oder beim Joggen ein Audiobook hören kann.Der Besitz
Als ich 2006 zum ersten Mal ins Ausland gegangen bin, hatte ich kistenweise Zeug in meiner Wohnung. Es fiel mir unglaublich schwer, mich davon zu trennen. Erst als die Kisten jahrelang ungenutzt auf dem Dachboden meiner Eltern standen, fiel mir das Verschenken und Wegschmeißen leichter. Heute würde ich behaupten, dass ich keine Besitztümer habe, an denen ich hänge. Ich erfreue mich an meinem Mixer und meinem MacBook, aber wenn diese Dinge morgen kaputt gehen, dann stürzt mich das nicht in eine Krise. Seitdem ich ausgemistet habe, lebt es sich leichter. Vor allem im Kopf, denn Besitz verpflichtet, wie auch der Schuster in der Geschichte lernen musste. Ein Auto zum Beispiel muss versichert, gewartet, geschützt, vollgetankt und regelmäßig zum TÜV gebracht werden. Besitz aufzugeben oder sich zumindest nicht abhängig davon zu machen, ist noch eine relativ einfache Übung. Viel schwieriger wird es mit Freundschaften und Liebesbeziehungen. Je verliebter ich bin, desto größer wird der Herzschmerz nach der Trennung. Das bedeutet nicht, keine Liebe zu empfinden, sondern sich nicht daran zu klammern. Nur du allein bist für dein Glück verantwortlich, niemand sonst.Das Wenn-Dann-Spiel
Neben Besitz und Beziehungen haften wir vor allem an den eigenen Glaubenssätzen und Erwartungen. Die Führungskraft beispielsweise, die ihren kompletten Selbstwert über den Job gewinnt, hat spätestens zum Renteneintritt ein großes Problem. Oder der Fußballfan, dessen Laune vom Ergebnis seiner Mannschaft abhängt. Lange Zeit habe ich auch das Wenn-Dann-Spiel gespielt. Du kennst das sicher: „Wenn ich X Euro im Monat verdiene, dann darf ich endlich glücklich sein.“ oder „Wenn meine Freundin abends nicht immer so spät von der Arbeit kommen würde, dann wäre unsere Beziehung besser.“ Das ist pure Folter, denn selbst wenn ich ein Ziel erreicht habe oder meine Erwartung erfüllt wird, macht mich das nicht lange glücklich. So platt es klingt, aber es geht um den Weg. Es ist nicht verkehrt, Ziele zu haben, wenn sie eine Richtung vorgeben und motivieren. Aber das Anhaften an einem Ziel sorgt dafür, dass wir unser Glück von Bedingungen abhängig machen, die wir nicht kontrollieren können. Beenden will ich mit einem wundervollen Satz aus der hinduistischen Bhagavad Gita: „Du hast das Recht zu arbeiten, aber niemals ein Recht auf die Früchte deiner Arbeit.“ In diesem Sinne: mache dich frei vom Ergebnis und genieße den Weg dorthin.Als Podcast anhören
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